Leider musste das Gespräch von Ajna Jusić mit Melisa Erkurt am 31. März Coronabedingt abgesagt werden. Interessierte können sich in der Reportage "Die Befreiung" von Kristina Maroldt, erschienen in der Zeitschrift Brigitte (Heft 20/2019) ein Bild über Ajnas persönliche Geschichte und ihre Arbeit für den von ihr gegründeten Verein "Vergessene Kinder des Krieges" machen. Wir bedanken uns bei der Redaktion für die Erlaubnis, diesen Artikel zu verwenden.
REPORTAGE VON KRISTINA MAROLDT AUS DER BRIGITTE 20/2019
DIE BEFREIUNG
Ajna Jusić wurde bei einer Vergewaltigung im Bosnienkrieg gezeugt. Lange Zeit verschwieg ihre Mutter ihr das. Als Ajna es schließlich doch herausfand, brach erst ihre Welt zusammen. Dann wurde sie zur Kämpferin.
Das erste Leben von Ajna Jusić endete mit einem Schuhkarton. Sie fand ihn im Herbst 2008, als sie allein zu Hause war; eine 15-Jährige mit langen Haaren und dichten Brauen, es war ihr erstes Jahr auf der Oberschule. In dem Karton lagen Notizen von Therapeut*innen und der Polizei. Sie berichteten von einer bosnischen Muslimin, die Furchtbares erlebt hatte: 1992, im ersten Winter des Bosnienkriegs, war sie von einem kroatischen Soldaten vergewaltigt worden. Sie wurde schwanger, hasste, was in ihr heranwuchs, wollte abtreiben. Doch es war zu spät.
Die Frau, begriff Anja schnell, war ihre Mutter Sabina. Das Kind, das sie im September 1993 in einem Frauenhaus der Hilfsorganisation „Medica Zenica“ zur Welt brachte, war sie selbst.
„Es war ein Schock“, sagt sie. Wie ein schwarzes Loch schluckte der Karton damals alle Gewissheiten ihres bisherigen Lebens: die Liebe der Mutter und des Stiefvaters. Die Vorstellung ihr leiblicher Vater sei im Krieg gefallen. Wie kann mich meine Mutter ansehen, ohne mich zu hassen, fragte sie sich. Wer bin ich? Wem kann ich noch vertrauen?
20.000 Frauen und Mädchen wurden im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 vergewaltigt. Die Täter waren serbische, bosnische, kroatische Soldaten, die Tatorte Hotels, Schulen oder Turnhallen, die zu Lagern umfunktioniert worden waren, aber auch Privathäuser, die die Soldaten auf ihren Raubzügen stürmten, Schuppen, in die sie junge Mädchen zerrten, die ihnen über den weg liefen. Die Frauen des Feindes sollten gebrochen, Familien zerstört werden. Nur allzu oft gelang das.
Die bosnische Gesellschaft versteckt diese Frauen heute wie hässliche Narben. Auf Druck von Frauenrechtsorganisationen können sie sich seit 2006 zwar als zivile Kriegsopfer anerkennen lassen; sie haben dann Anspruch auf eine kleine Rente und Unterstützungsprogramme. Doch nicht einmal 1000 Frauen haben den Antrag eingereicht. Viele schämen sich, den Angestellten in den zuständigen Institutionen von ihren Vergewaltigungen zu erzählen. Und selbst die, die den Kriegsopferstatuts bereits haben, hören oft gehässige Kommentare: Wieso hast du dich nicht gewehrt? Selber schuld! Und so schweigen die meisten, versuchen, alleine mit den Depressionen, Ängsten und Schlafstörungen zurechtzukommen, die sie seit dem Krieg plagen.
Die Kinder aber, die während der Vergewaltigungen entstanden, geschätzt um die 4000, wollen sich oft nicht verstecken. Wie Ajna sind sie heute junge Erwachsene, spätestens seit der Pubertät wollen sie wissen, wo ihre Wurzeln sind. Die Mauern, gegen die sie dabei rennen, sind massiv. Die Gesellschaft würde am liebsten alles vergessen. Die Mütter sind oft zu traumatisiert, um ihre Kinder aufzuklären; viele haben sie nach der Geburt sofort weggegeben. Die Adoptiveltern wollen keine schlafenden Hunde wecken. Aber schadet Schweigen auf Dauer nicht mehr als die schlimme Wahrheit?
Ajna sagt, als sie zum ersten Mal geahnt habe, dass etwas nicht stimme, sei sie gerade in die Schule gekommen. Mit ihrer Mutter wohnte sie damals bei den Großeltern in dem Dorf bei Zenica, rund 70 km nördlich von Sarajevo. Im Unterschied zu vielen anderen Vergewaltigungsopfern hatten Sabinas Eltern ihre Tochter nicht verstoßen. Einfach war es trotzdem nicht. Die Leute tuschelten. Die Kinder in der Schule verprügelten Ajna, riefen „Bastard“. Hör nicht auf sie, sagte Sabina, wenn Ajna wieder einmal weinend nach Hause kam. Du bist doch kein Bastard, dein Vater ist im Krieg gefallen.
Kurz darauf lernte Sabina Nusret kennen, einen Maurer aus dem Nachbardorf, ein sanfter, freundlicher Mann, auch Ajna mochte ihn. Sie heirateten, die Mutter zog mit Ajna zu ihm, kurz schien es, als würde ihr Leben nun so gut oder schlecht wie jedes andere. Doch dann riefen auch die Kinder in Ajnas neuer Schule: Bastard! Und Ajna begann zu fragen: Wie sah er aus, mein Vater? Was war er für ein Mensch? Das musst du nicht wissen, sagte Nusret. Ich bin jetzt dein Vater. Reicht dir das nicht?
Als 2006 „Grbavica“ in die Kinos kam, ein preisgekrönter bosnischer Film über eine im Krieg vergewaltigte Frau und ihre Tochter, und auch die Menschen in Zenica in die Filmsäle strömten, nahm sich Sabina vor: Jetzt, endlich, werde ich mit Ajna reden. Ihre eigene Geschichte war – verfremdet und unter anderem Namen – die Vorlage für das Drehbuch gewesen, die Regisseurin hatte lange Zeit bei „Medica Zenica“ recherchiert. Immer wieder übte Sabina mit ihrer Therapeutin, wie sie Ajna alles erzählen würde. Doch dann sah sie den Film mit ihrer Schulklasse und kam aufgelöst nach Hause. „Was für ein Glück, dass uns das nicht passiert ist!“, rief sie. Und die Mutter schwieg weiter.
„Wir haben so viele Fehler gemacht“, sagt Sabina heute. „Dabei wollten wir sie nur beschützen.“ Sie sitzt an diesem Morgen auf Ajnas Sofa in Sarajevo, eine kleine Frau mit müden Augen und zarten Händen, die sie beim Erzählen unentwegt knetet. Seit einer Woche ist sie bei ihrer Tochter zu Besuch, das Wetter war schlecht, also blieben sie meist in der kleinen Wohnung, tranken Kaffee, rauchten, redeten. „Schön war das“, sagt Sabina und strahlt plötzlich. Und Ajna neben ihr, die Haare heute kurz, die Brauen oft spöttisch nach oben gewölbt, nickt. Sie lächeln viel, wenn sie sich ansehen, umarmen sich oft. Statt wie Mutter und Tochter wirken sie wie enge Freundinnen. Vielleicht, weil sie es schließlich doch geschafft haben: Sie haben über das Unaussprechliche gesprochen. „Es war eine Befreiung“ sagen beide. Auch wenn der Weg dorthin hart war.
Denn als Ajna die Schachtel entdeckte, war sie erst wie versteinert. Monatelang erzählte sie keinem etwas. Nicht der Mutter – sie fürchtete, die würde in ihr nur ihren Vergewaltiger erkennen. Nicht den Klassenkamerad*innen – die hatten sie kürzlich ausgelacht, weil sie auf die Frage des Lehrers, wie ihr Vater heiße, keine Antwort gewusst hatte. Sie schwänzte den Unterricht, kehrte nur zum Schlafen in ihr Schulwohnheim in Zenica zurück, ihre Noten sanken in den Keller. Irgendwann rief die Schule Sabina an.
Nusret und sie fanden Ajna auf einem Spielplatz nahe der Schule. Als Mutter und Tochter einander sahen, konnten sie nicht aufhören zu weinen. Doch miteinander sprechen konnten sie nicht. Das gelang erst nach vielen Therapiestunden bei „Medica Zenica“ und einer Psychologin, die die Schule vermittelt hatte.
Monate vergingen, bis Ajna eines Abends zu Sabina ins Bett kroch. „Lass uns allein“, bat sie Nusret, dann redeten Mutter und Tochter die ganze Nacht. Zweifelst du an deiner Liebe zu mir, fragte Ajna. Ist mein Vater der Grund, wieso du es hasst, wenn ich meine Brauen runzele? Was hast du gefühlt, als du mich zum ersten Mal sahst? Und Sabina antwortete. Dass sie ihr ungewolltes Baby nach langem Ringen als Auftrag Gottes verstanden habe. Dass Ajna heute das Wichtigste in ihrem Leben sei. Dass die Wunden der Vergangenheit trotzdem nie heilen würden. „Es tat so gut, nicht mehr lügen zu müssen“, sagt Sabina. „Seither sind wir uns so nahe, wie Mutter und Tochter nur sein können.“ In dieser Nacht begann das neue Leben von Ajna.
Die neue Nähe zu ihrer Mutter gebe ihr große Kraft, sagt sie – auch heute noch, zehn Jahre später. Und die braucht sie. Denn sie hat Großes vor: Sie möchte die Kriegskinder dazu bringen, auf die Barrikaden zu gehen. Sie sollen endlich mit ihren Müttern sprechen, sich dieselbe Aufmerksamkeit, denselben rechtlichen Status erkämpfen, den in Bosnien und Herzegowina die Kinder von gefallenen Soldaten haben. Man kommt damit leichter an staatliche Hilfen, doch Ajna geht es vor allem ums Prinzip: „Wir müssen endlich sichtbar sein.“
„Die vergessenen Kinder des Krieges“ heißt der zwölf Mitglieder starke Verein, den sie seit zwei Jahren von ihrer Wohnung aus leitet. Die bosnische Psychotherapeutin Amra Delić hatte ihn 2015 gegründet, als sie als eine der ersten überhaupt die Situation der Kriegskinder in Bosnien und Herzegowina untersuchte: ihr hohes Risiko für Angststörungen und Depressionen, die Stigmatisierung und Diskriminierung, die sie täglich erleben. Auch Ajna, die damals in Sarajevo Psychologie studierte, lernte Delić bei ihren Recherchen kennen. Hast du Lust, den Verein zu leiten, fragte sie sie. Dass ihr euch trefft und über eure Erfahrungen sprecht, ist gut. Doch damit die Diskriminierung aufhört, braucht es Leute wie dich, die stark genug sind, ihre Geschichte auch anderen zu erzählen.
Ajna zögerte. Nicht immer ist Reden eine Befreiung, das hatte sie bei ihrer Mutter erlebt. Vielfach war Sabina nach dem Krieg von Journalist*innen interviewt worden, oft von Männern, die sie drängten, die Vergewaltigungen detailliert zu schildern. Sie hatte sich immer bemüht, auf alles zu antworten. Die Welt sollte vom Unrecht erfahren. Doch es wühlte sie so auf, dass sie jedes Mal Tage brauchte, um wieder zu sich zu finden.
Gemeinsam mit Sabina beschloss Ajna deshalb: Ja, ich werde sprechen. Aber nicht als Opfer, sondern als Aktivistin. Ihre Geschichte erzählt sie heute kontrolliert, fast kühl. Und sie verbindet sie mit Forderungen: Ändert unseren Status! Akzeptiert Geburtsurkunden auch ohne Namen des Vaters! Klärt Beamt*innen auf, damit sie uns keine Fragen stellen, deren Antworten wir sowieso nicht wissen, weil man sie uns seit Jahren vorenthält! „Wir brauchen kein Mitleid“, sagt sie. „Wir wollen Gerechtigkeit.“
Der Wirbel, den sie damit verursacht hat, ist groß. Bosnische und ausländische Medien haben über die „Vergessenen Kinder“ berichtet. Ajna trat bei Konferenzen auf, im Rahmenprogramm der Friedensnobelpreisverleihung in Oslo, bei einem Tanzprojekt über Kriegskinder in Tuzla. Und sie eröffnete im April eine Fotoausstellung, in die zwei Wochen lang Schulklassen, Tourist*innen, Botschafter drängten: Im Historischen Museum von Sarajevo konnte man Porträts von Ajna, Sabina und vier anderen Kriegskindern und ihren Müttern sehen.
„Lasst uns eine Gesellschaft gleicher Werte, nicht verschiedener Labels sein“, forderten sie in Texten neben den Bildern. In einem Land, das sein Gedenken an den Krieg meist nutzt, um die Gräben zwischen den Ethnien zu vertiefen statt zu schließen, war das eine Sensation.
Spätestens seit dieser Ausstellung steht Ajnas Handy nicht mehr still, auch an diesem Morgen bekommt sie Nachrichten von Vereinsmitgliedern und Müttern, Anfragen für Interviews. Manchmal wird ihr alles zu viel – neben ihrem ehrenamtlichen Engagement muss sie sich wie die meisten jungen Bosnier*innen mit Minijobs über Wasser halten -, dann taucht sie für ein paar Tage ab. „Ohne die Therapien, die ich gemacht habe, hätte ich für all das nicht die Energie“, sagt sie. „Ich könnte nicht die sein, die ich heute bin“.
Für die Kriegskinder will sie daher nicht nur einen neuen rechtlichen Status erkämpfen, sondern auch eine bessere psychologische Betreuung. Nur wenige werden therapeutisch begleitet, selbst die meisten Mütter wurden nie behandelt. Nicht nur weil das Thema ein Tabu ist. Es gibt auch zu wenig Beratungsangebote.
Es ist nur eines von vielen Problemen, die Ajna und ihre Mitstreiter*innen mit Kriegskindern auf der ganzen Welt verbinden. Auch in Ruanda, im Kongo, im Nordirak gibt es kaum Unterstützung für die Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt. Auch dort sehnen sich Mütter wie Kinder nach Anerkennung und Anteilnahme. Auf den Konferenzen hat Ajna nun Kontakte zu Aktivist*innen in anderen Ländern geknüpft; mit der Juristin Vildana Dzekman, die den Verein als Anwältin berät, und einem internationalen Expertenteam will sie die weltweite Rechtslage analysieren. Eine Statusänderung von Kriegskindern in Bosnien und Herzegowina könnte so zum Präzedenzfall werden, der auch kommende Generationen und Kriegskinder in anderen Ländern vor Diskriminierung bewahrt.
Nicht Rache sei ihr Ziel, sagt Ajna, sondern gesellschaftliche Gerechtigkeit. Ihren leiblichen Vater hat sie deshalb auch nie getroffen. Obwohl sie weiß, wer er ist und dass sie zwei Halbgeschwister hat. „Ich sehne mich nicht nach Vergeltung. Für mich ist vor allem wichtig, dass es meiner Mutter gut geht. Würde ich ihn treffen, würde das bei ihr alte Wunden aufreißen. Also lasse ich es bleiben.“
Sie sieht einen selbstbewusst, fast trotzig an, als sie das sagt. Auch Schweigen kann gut sein, sagt dieser Blick. Wenn du dich selbst dafür entscheidest.
Krieg, Stillstand – und kleine Fortschritte
Mehr als 100.000 Menschen starben während des Bosnienkriegs in den 1990er Jahren, zwei Millionen wurden vertrieben. Das Dayton-Abkommen beendete 1995 die Kämpfe, von einer Versöhnung der Volksgruppen kann aber keine Rede sein. Bosnien und Herzegowina ist gespalten in die serbische Republika Srpska und die Föderation, wo vor allem muslimische und kroatische christliche Bosnier*innen leben. Es gibt ein dreiköpfiges Präsidium mit einem Vertreter für jede Volksgruppe. Das soll für Gleichberechtigung sorgen, schürt aber vor allem Nationalismus. Reformen werden so verhindert, die Ahndung der Kriegsverbrechen und die Opferentschädigung kommen kaum voran. Nur etwa 200 Vergewaltiger mussten sich bisher vor dem UN-Tribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag oder vor nationalen Gerichten verantworten; die langen Verfahren halten viele Opfer davon ab, Klage einzureichen.
Seit 2006 können sich aber die vergewaltigten Frauen als zivile Kriegsopfer anerkennen lassen. 2008 deklarierten die UN Vergewaltigung als Kriegsverbrechen. Im April forderte erstmals eine UN-Resolution auch für die Kinder der Vergewaltigungsopfer eine bessere Unterstützung.
Wer Ajna Jusić' Verein oder anderen Kriegskindern helfen will, kann das über eine Spende an „Medica Mondiale“ tun. Sejt ihrer Gründung im Bosnienkrieg betreut und berät die NGO Frauen in Kriegs- und Krisengebieten. Seit 2018 werden auch die „Vergessenen Kinder des Krieges“ finanziell unterstützt. Medica Mondiale, IBAN: DE92 3705 0198 0045 0001 63 | BIC: COLSDE33, Betreff: „Kriegskinder“
Hier der Link zum Lesen der Reportage "Die Befreiung" über Ajna Jusić
10-minütiger Filmbeitrag (Bayrischer Rundfunk) für Interessierte:
https://www.youtube.com/watch?v=JYt1wbuN7K8
Der Kontakt zu Ajna Jusić wurde durch das in Wien ansässige bosnische Frauenforum "Mimosen" (Azra Merzan) vermittelt.