Das ist die Adresse, an die mein Herz immer noch bunte Postkarten schickt, leidenschaftliche Telegramme und Briefe, die ein bisschen wehmütig und sehr neugierig sind. Gaußplatz11 ist die Adresse meiner Kindheit und Jugend, und ganz zog ich nie von dort aus. Das tut, glaube ich, keiner. Auch eine Pflanze löst sich ja nicht von ihren Wurzeln, und wenn sie noch so weit in die Luft wächst. Und so bin ich das kleine rothaarige Mädchen vom Gaußplatz geblieben, obwohl mein Haar inzwischen grau wurde und meine Wohnungen wechseln wie das Wetter. Ich habe nachgezählt, insgesamt sind es neun.

Oder hat jeder nur eine einzige Adresse, die ihm in vielen Masken erscheint? „Ging heute nacht im Traum über den Gaußplatz“, schrieb ich am 3. April 1985 in mein „Nächtebuch“. „Im Fenster meiner Mutter brannte Licht. Das verwunderte mich, da ich wußte, sie ist tot. Ich kletterte an der Fassade des Hauses hoch und stieg in ihr Zimmer. Alles war unverändert. Meine Mutter stand in ihrem braunen Mantel und Hut mit dem Rücken zu mir an der Wand. Ich umarmte sie. Und sah, dass Mantel und Hut leer waren. Inzwischen veränderte sich das Zimmer. Ich setzte die leere Hüllle meiner Mutter auf den Stuhl neben der Tür. Da sie ständig zusammenfiel, trieb ich einen goldenen Nagel durch ihren Hut in die Wand. Dann umarmte ich sie noch einmal.“
Und am 20. November 1986: „Ich besuche meine Mutter. Mein Bruder kommt mit mir in das Haus am Gaußplatz, in dem sie gelebt hat. Aber die Treppe gehe ich allein hinauf. Meine Mutter öffnet mir als junges Mädchen mit einer altmodischen Schneckenfrisur. Später merke ich, dass ihre Jugend durch das Alter hindurchscheint wie durch eine Maske.“
Liebe Mutti! Sie war ein junges Mädchen, mollig und scheu. Bis zuletzt. Und bis zuletzt wartete sie auf das Wunderbare, das nie kam. Außerdem und wirklich nur außerdem, war sie eine früh ergraute Frau, sehr gebildet, sehr bescheiden, geprägt von einem pessimistischen Sinn für die Realität. Ihr Papa war Miniaturmaler gewesen, die Mama Pianistin und Klavierlehrerin. Aufgewachsen ist sie in Margareten. Sie hat Singen und Malen gelernt. Ja, und dann geriet sie auf einmal in die Brigittenau, wo mein Vater direkt unter unserer Wohnung eine Erfinderwerkstatt hatte, eine Mohngroßhandlung und eine Spedition. Sie führte sein Büro, während hintereinander eine Marie, eine Sopherl und eine Friederike für den Haushalt sorgten. Manchmal tat sie auch dies selbst. Und in der wenigen freien Zeit, die ihr blieb, spielte sie am Flügel und sang dazu. Meine Kindheit auf dem Gaußplatz war von lauter Schubert-Liedern erfüllt. Ich weiß nicht, ob gesungene Lieder vergänglich sind. Denn eigentlich glaube ich, dass überhaupt nichts vergeht. Nur in unserem Bewußtsein wird die Vergangenheit unscharf, aber ist unser Bewußtsein die ganze Wirklichkeit? Nein! Und so singt die Emma Gruber noch immer, und sehr oft weint sie auch. Lauter aus der Mode gekommene Tugenden hat sie gehabt. Fleiß, Anstand, Gewissenhaftigkeit. „Wenigstens“, sagte sie nach meinem dritten Buch, „lernt die Lotte Maschinschreib´n.“ Gerührt lobte sie den Märchendichter Christian Andersen nach der Lektüre seiner Biographie: „Und so brav ist er g´storb´n!“ Wie, wenige Jahre später, sie selbst.
KARL GRUBER stand auf dem Schild über dem Geschäft meines Vaters. Aber Mohngruber haben ihn die Bauern genannt. Mohnkönig! Denn das graue und blaue Gold ist alt. Mohn wurde schon in der Steinzeit gepflanzt, als Nahrung, Gewürz und magischer Reiz. In der Antike war Morpheus, der Gott des Schlafs und Schöpfer der Traumwelt, durch die Mohnkapsel versinnbildlicht. Sein Schatten fiel geheimnisvoll auf den Gaußplatz, wo mein Vater die wirkliche Welt der Elben und Kobolde für mich erfand. Meine Kindheit war von wunderbaren Wesen und Begebenheiten erfüllt. Wir waren arm, unter allen Möbeln pickte der Kuckuck. Denn mein Vater erfand nicht nur Märchen, sondern auch Maschinen, und die verschlangen das ganze Geld. Siebenunddreißig Patente! Arm also. Und sehr reich! Er verwandelte das Haus am Gaußplatz in einen Zauberpalast. Prinzen, Geister und Feen glitten an den Fenstern vorbei. Der Mohnkönig hat mich gelehrt, dass diese Welt aus Phantasie gemacht ist. Sie wird böse, wenn unsere Phantasie böse ist. Ich habe diese Lektion für mein ganzes Leben gelernt. Er war jähzornig, doch lachte er viel, am liebsten und lautesten über sich selbst. Einmal gestand er mir, er könne nachts fliegen. Damals verstand ich, was auch ich später erlernte, noch nicht. Mein Vater war klein, dick und zuletzt dünn wie Papier. „Und wenn wir einst gestorben sind“, sang er, „leben wir lustig fort!“ Er starb an Krebs, aber bei dieser Gelegenheit stellten die Ärzte auch mehrere Herz- und Lungeninfarkte fest. Er hatte sie überhaupt nicht bemerkt.
Ich erinnere mich ... An den Duft der Akazien vor dem Haus. An das Geklingel der Straßenbahn, die links und rechts an ihm vorbeifuhren. An den großen und den kleinen Park, nicht mehr als ein bisschen Gebüsch und Gras beide, wo ich mit den anderen „Gassenkindern“ spielte und wo wir einander in leidenschaftlichen Schlachten mit Steinen bewarfen. An die Lehrlinge meines Vaters: Ludwig, der mir das Radfahren beibrachte, Robert, in den ich romantisch verliebt war, und Leopold, der mich küsste. An den Augarten, in dem ich als Dreijährige Löcher grub, um in die Hölle zu schauen. Und als Achtjährige baute ich aus Steinen Altäre und war eine keltische Druidin, obwohl ich damals nicht mehr und noch nicht wußte, was Kelten sind. Un ich erinnere mich an den großen Himmel über meinem Fenster. Atemlos wach im Bett liegend, führte ich lange und sonderbare Gespräche mit den Sternen.
Es war schon Krieg, als mein kleiner Bruder auf die Welt kam. Schlimme Jahre für ein Kind! Die Sirenen, der Luftschutzkeller, die Bomben. Auch das Haus am Gaußplatz wurde getroffen. Die Russen. Ihre schwermütigen Lieder nachts auf den Straßen, die durch fensterlose Mauern in unser Zimmer hereinströmten. Und der Hunger. Später, als es schon ein bisschen mehr als die paar Erbsen, und jeder ein Käfer, gab, richtete ich ihn dazu ab, den Schlüssel zur altdeutschen Kredenz aus der Schürzentasche meiner Mutter zu stehlen. Nie wieder hat uns etwas so geschmeckt wie die paar Löffel Eipulver. Lieber Karli, mein diebischer Komplize. Als mein Vater starb, betranken wir uns in dem Zimmer, in dem er gelebt hatte, in einem wilden Familienfest auf sein Wohl. Aber nach Muttis Tod saßen wir nebeneinaner auf ihrem Messingbett und weinten.
Als mich Linde Waber viele Jahre später einlud, den Gaußplatz 11 zu besuchen, nahm ich Wünschelrute und Pendel mit. Denn ich hatte inzwischen gelernt, mit beiden den Raum abzutasten. Geomantie heißt diese alte, schon fast in Vergessenheit geratene Kunst. Und welche Überraschung! Oder war es gar keine? Gaußplatz 11 ist ein einziger Ort der Kraft! In allen, die sich dort aufhalten, fängt sie zu kreisen an. Unsichtbare Türen führen den, der die Schwellen der Angst zu überschreiten vermag, in andere Welten, aus denen er vielleicht nicht als derselbe wiederkehrt.
Geliebtes Haus! Ich war sehr unglücklich und sehr glücklich in deinen Mauern, hinter denen ein Geheimnis verborgen ist. Vielleicht, dass Linde Waber es in ihren Bildern verrät ...

Aus:
LOTTE INGRISCH, LINDE WABER, BODO HELL. Gaußplatz 11
Erstausgabe. Copyright 1994 bei David-Presse und den Künstlern.
Die Auflage beträgt 125 numerierte und von den Künstlern signierte Exemplare.